Sonntag, 27. August 2023

Harish Chandra und das nachtblaue Fleece

Wieder hat sich die Nacht auf die Ghats von Benares gesenkt und so wandere ich diesmal stromaufwärts, ein letztes Mal auf meiner Reise.
Jugendliche haben sich auf den leeren Terrassen versammelt, einige haben sich zu Ballspielen zusammengefunden, andere hören Musik oder unterhalten sich lautstark.Von Ferne höre ich das Schlagen einer Glocke untermahlt von gesungenen Mantren.
Angenehm fühlt sich die nächtliche Luft an, kein Vergleich zur stickigen Hitze früherer Besuche.

Harish Chandra Ghat ist heute mein Ziel, der alte Verbrennungsplatz und der für alle Konfessionen offene, im Gegensatz zu Manikarnika, der ausschließlich für Hindus reservierte.

Der Platz wirkt etwas kleiner und alles scheint hier langsamer abzulaufen, mit fallweise größeren Pausen zwischen den Verbrennungen.
Im angrenzenden kleinen Tempel gehen „heilige Männer“ ihren Ritualen nach, besonders fallen die mit Leopardenfell und schwarzen Umhängen gekleideten, die Körper mit Asche der Leichenplätze eingefärbten und mit unterschiedlichsten Utensilien behangenen Yogis auf - die Aghoris. Sie gehören wohl zu den extremsten Anhängern des Shivakults, leben häufig auf Verbrennungsplätzen (smashans) und sind bestrebt eine nichtunterscheidende Sichtweise zu halten, nichts abzulehnen, gleichgültig ob Fleisch, Alkohol, Drogen, Gift, Sex usw.
Ich beobachte einen Aghori der mit zwei Eisenstangen ein glühendes Holzscheit von einem Verbrennungsplatz zu einer Feuerstelle trägt, ein anderer sitzt in tiefer Versenkung ebenfalls vor einem Feuer, schon seit vielen Stunden! Bereits vormittags bei einem Spaziergang sah ich ihn in Meditationshaltung dort sitzen.
Ich verbringe schon einige Stunden hier an diesem Ort, muß mich nun bewegen und schlendere um den Tempel mit der Absicht mich nun "endgültig" von hier zu verabschieden.

Meine kleine Fleecedecke, die mir in den kühlen indischen Novemberabenden gute Dienste geleistet hat, brauche ich nun nicht mehr und mein Vorhaben ist, sie zu verschenken, wem das war mir noch nicht klar...bis jetzt zumindest. Ich biege um die Ecke des Tempels und sehe einen Aghori im Halbdunkel an einer Feuerstelle sitzen, im gleichen Moment als ich ihn sehe, winkt er mich zu sich und lädt mich ein, mich zu ihm zu setzen.
Irgendwie fügt sich alles auf dieser Reise wie von selbst aneinander. Da sitze ich nun in dunkler Nacht mit einem Aghori am staubigen Boden vor seinem Feuer. Wir „unterhalten“ uns oder was man so darunter versteht, nicht leicht aber mit wildem Gestikulieren und bruchstückhaftem Englisch scheinen wir einander zu verstehen. Erschwerend kommt dazu, dass offenbar von viel „heiligem“ Rauch die Worte des Yogis nur langsam seine Lippen verlassen...
Und so steht wieder die Zeit still....
Bin ich hier im heute? Oder um Jahrhunderte zurückversetzt?

...wieder zuhause im winterlichen Europa frage ich mich ob es irgendwo auf dieser Welt einen zweiten Ort wie Benares gibt, solch eine Intensität der Gefühle und Energien, wo es scheint als wäre Zeit nicht existent....
Etwas habe ich dort gelassen und es kommt mir nun vor wie eine unsichtbare, hauchdünne Verbindung durch Zeit und Raum...und es ist doch nur eine kleine, nachtblaue Fleecedecke, die jetzt einen Yogi wärmt...

Benares, in einer weiteren Novembernacht

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